„Digitale Lösungen könnten die Gesundheitsausgaben für chronisch Kranke pro Jahr um mindestens 30 Milliarden Euro senken“

In Deutschland verfügen wir über ein sehr stark ausdifferenziertes Gesundheitswesen, in dem viele Akteure an der Versorgung der Patientinnen und Patienten zusammenwirken. Die Digitalisierung stellt eine große Chance dar, das Zusammenwirken dieser Akteure zu verbessern. Wie das geschehen kann, erläutern Jeremy Dähn, Chief Digital Officer sowie Geschäftsbereichsleiter „Digitale Geschäftsmodelle“ der Johanniter, und Amir Humanfar, Co-Founder des Berliner Start-ups HUM Systems im Gespräch.

Herr Dähn, Sie arbeiten in der Johanniter GmbH als „Treiber der digitalen Transformation“, wie in Ihrem Xing-Profil zu lesen ist. Was genau ist darunter zu verstehen, und wo setzen Sie Ihre Schwerpunkte in der vielseitigen Johanniter-Welt, die ja eine Fülle von Krankenhäusern, Fach- und Rehabilitationskliniken, Medizinischen Versorgungs- und Therapiezentren, Seniorenhäusern, Hospizen und Pflegeeinrichtungen umfasst?

Jeremy Dähn: Dazu muss man wissen, dass ich nun ein Jahr bei den Johannitern bin und dass es meine sektorenübergreifende Leitungs-Position für Digitalisierung und Innovation vorher noch gar nicht gab. Das Themenfeld lag teils in den Verantwortlichkeiten der einzelnen Kliniken und Einrichtungen und dort bei der jeweiligen Geschäftsführung oder bei dem Johanniter Competence Center in Berlin, unserem hauseigenen IT-Dienstleiter. Ich verknüpfe diese einzelnen Stränge, prüfe neue Optionen und gebe Impulse in alle Richtungen.

 

Auf was kommt es dabei an?

Dähn: Ich arbeite Hand in Hand mit dem Chief Information Officer der Johanniter, wobei ich mich im Rahmen der digitalen Transformation besonders stark um die Rolle der Patientinnen und Patienten kümmere. Das heißt: Das Johanniter Competence Center ist das Herzstück für alles Digitale. Hier läuft alles zusammen. Und das, was ich jetzt an zusätzlichen Services, an Innovationen mit den Kliniken und Einrichtungen erarbeite – vom ambulanten bis hin zum stationären Sektor, vom klinischen bis zum pflegerischen Bereich –, das funktioniert nur, wenn ich das auf die Infrastruktur der IT aufsetzen und anwenden kann. Das gilt es jeweils zu prüfen. Außerdem sollten möglichst viele Sektoren von den vorgeschlagenen Veränderungen profitieren. Deshalb liegt mein Fokus vor allem auf den chronisch kranken Patientinnen und Patienten.

 

Warum auf dieser Gruppe?

Dähn: Als chronisch krank wird ein Mensch bezeichnet, der eine lang andauernde, vielleicht lebenslängliche und in der Regel unheilbare Krankheit hat und zunehmend von der Pflege und Fürsorge anderer abhängig ist. Die Palette chronischer Krankheiten reicht dabei von den Gelenken, zum Beispiel Arthrose, dem Herzen und der Lunge, wie Asthma, über verschiedene Krebserkrankungen bis hin zu den unterschiedlichen sogenannten Seltenen Erkrankungen, wie Mukoviszidose. Auch Stoffwechselstörungen wie Diabetes oder psychische Störungen und Demenz sind chronischer Art. Häufig kommen im Laufe des Lebens weitere Erkrankungen hinzu, die gleichzeitig, also nebeneinander bestehen können, sodass man von Multimorbidität spricht. Das führt dazu, dass diese Patientinnen und Patienten in einem kontinuierlichen Austausch mit den Johannitern stehen – beispielsweise erst im ambulanten Bereich der MVZs behandelt werden, dann möglicherweise einen Klinikaufenthalt haben, um weiter therapiert oder um operiert zu werden, und später eventuell auch eine unserer Pflegeeinrichtungen aufsuchen.

Chronisch Kranke sind also für verschiedene Sektoren der Johanniter von zentraler Bedeutung. Das ist ein wichtiger Grund, diese Gruppe genauer zu betrachten. Hinzu kommt die große Anzahl von Betroffenen: Mehr als die Hälfte der Deutschen leidet unter einer chronischen Erkran­kung.

 

Wie können Sie mit Ihrer Arbeit den chronisch Kranken das Leben erleichtern?

Dähn: Es gibt eine Reihe von chronischen Krankheiten, die zwar nicht heilbar, aber dennoch durch medizinische und pflegerische Maßnahmen heute gut behandelbar sind. Wichtig dabei ist, dass die Betroffenen in jeder Phase ihrer Erkrankung stets die für sie geeignete Behandlung bekommen. Das wollen wir mit unserer Arbeit befördern. Auch ein kontinuierlicher Austausch zwischen Behandler und Behandelten ist entscheidend.

 

Sie wollen also die einzelnen Krankheitsphasen intensiver als bisher und möglichst ohne Unterbrechung begleiten, um die Betreuung zu optimieren? Und dabei hilft „Digitales“?

Dähn: Ja. Denn wir befinden uns in der tradierten Welt des Klinik-Kosmos leider immer noch in einem inzidenzgetriebenen Austausch. Das heißt, das Krankenhaus bekommt in der Regel von einem chronisch kranken Menschen nur etwas mit, wenn dieser wegen eines Ereignisses, beispielsweise eines Unfalls, eingewiesen wird. Was davor mit ihm war, was er zusätzlich hat und was nach dem Klinikaufenthalt mit ihm passiert, das bleibt den behandelnden Ärztinnen und Ärzten oft weitgehend unbekannt. Doch gerade bei Multimorbidität ist ein medizinisches Gesamtbild, das Vorerkrankungen, Medikamentengaben etc. berücksichtigt, von Vorteil, um Therapie, Rehabilitation und Nachsorge auf das Individuum zuschneiden und damit den Behandlungserfolg verbessern zu können. Das streben wir an.

 

Warum ist die ganzheitliche Sicht eher selten?

Dähn: Bisher stehen persönliche Patientendaten in der Regel unübersichtlich an verschiedenen Orten zur Verfügung – oftmals, ohne dass der oder die Betroffene eine einfache Einsichtsmöglichkeit in diese Daten hätte. Manche Informationen liegen bei der Hausärztin oder beim Hausarzt, manche bei Fachärztinnen oder Fachärzten und andere sind vielleicht durch Arztwechsel unvollständig. Das bedeutet, bereits erfolgte Untersuchungen müssen möglicherweise wiederholt werden, und es entstehen vermeidbare Kosten. 

 

Wie hoch schätzen Sie die vermeidbaren Kosten ein?

Dähn: Wie das Statistische Bundesamt im April dieses Jahres mittelte, sind die Gesundheitsausgaben 2019 auf mehr als 400 Milliarden Euro gestiegen. Die Zunahme an chronisch erkrankten Menschen gehört dabei zu den gravierendsten Herausforderungen für unser Gesundheitssystem: Inzwischen werden etwa 70 Prozent aller Gesundheitsausgaben für die Versorgung von Patienten mit einer oder mehreren chronischen Erkrankungen aufgebracht. Das sind 280 Milliarden Euro pro Jahr. Meiner Ansicht nach ließen sich mindestens 10 Prozent, sprich rund 30 Milliarden Euro im Jahr, einsparen, wenn die Behandlung mithilfe digitaler Tools individueller und ganzheitlicher als bislang erfolgen könnte.

 

Was genau planen Sie, um das System zu entlasten und die Betroffenen zu unterstützen?

Dähn: Wir wollen den Betroffenen ein digitales Navigationssystem zur Verfügung stellen, welches ihnen in jeder Krankheitsphase einschließlich Reha und Nachsorge sektorenübergreifend Orientierung bietet. Der erste Schritt ist die Etablierung eines digitalen Patientenportals. Darauf kann der Patient oder die Patientin auch von zuhause aus jederzeit zugreifen, um Informationen einzuholen oder sich beraten zu lassen. Integrierbar ist ein Monitoring, das auf Wunsch den Gesundheitszustand automatisch überwacht und bei der Genesung unterstützt. Deshalb ist es wichtig für uns, uns mit Experten wie dem IoT-Start-up HUM Systems auszutauschen, um gemeinsam entsprechende digitale Lösungen zu entwickeln.

 

Wo sehen Sie, Herr Humanfar, die Rolle von HUM Systems in der Betreuung von chronisch Kranken?

Amir Humanfar: Unsere technologischen Lösungen wie die Livy Produkt-Familie bieten eine Reihe von Anwendungen, die für chronisch Kranke, aber auch für deren Bezugspersonen und betreuende Ärzte und Pfleger von Nutzen sein können. Das All-in-One-Sicherheitssystem von Livy beispielsweise vereint Brandschutz, Bewegungsmelder und Raumklimaüberwachung in einem Gerät. Außerdem gehört dazu eine App samt Community-Funktion. Das heißt: Im Ernstfall, zum Beispiel, wenn der Erkrankte aus irgendeinem Grund nicht aus dem Bett aufsteht oder seine Medikamente nicht nimmt, also Livy keine entsprechende Bewegung registriert, oder wenn jemand stürzt, Rauchentwicklung unbemerkt bleibt oder die Luftqualität sich verschlechtert hat, dann werden nicht nur die Patientinnen und Patienten selbst, sondern auch Verwandte, Freunde und Nachbarn oder das Pflegepersonal alarmiert.

 

In dieser Hinsicht sind Ihre technologischen Lösungen also kein Ersatz für das menschliche Miteinander, sondern verstärken es gewissermaßen sogar?

Humanfar: Genau. Menschen, die sich nahestehen und nicht mehr – so wie früher üblich – eng beieinander leben, erhalten dank Smart Home oder IoT wieder eine Verbindung zueinander, die ein neues Gemeinschaftsgefühl schafft, das wiederum Sicherheit mit sich bringt. Das kann chronisch Kranken, die nicht permanent, sondern nur ab und an Unterstützung benötigen, längere Autonomie in den eigenen vier Wänden bescheren und entlastet zugleich das Gesundheitssystem. Livy lässt sich zudem über Sprachbefehle steuern und mit anderen Smart-Home-Geräten verbinden, was eine zusätzliche Erleichterung bedeutet. Außerdem entwickeln wir unsere Produkte kontinuierlich weiter, um den Bedürfnissen des Marktes und aller Stakeholder noch besser gerecht zu werden. Darum ist insbesondere das Know-how von Profis wie den Johannitern so wertvoll für uns. Deren Praxiserfahrungen fließen in unsere Produktentwicklung ein.

 

Sind denn die Betroffenen in der Regel offen für digitale Innovationen?

Humanfar: Die Akzeptanz ist ein wesentlicher Aspekt. In diesem Zusammenhang ist es von Vorteil, dass unsere Angebote eigentlich aus dem Lifestyle- beziehungsweise Smart-Home-Segment kommen. Die Nutzerinnen und Nutzer, übrigens zunehmend auch ältere Personen, bringen sie zuhause an, weil sie selbst daran interessiert sind. Das heißt, sie entscheiden sich bewusst dafür, weil sie damit ihren Alltag erleichtern wollen. Sie schätzen zum Beispiel die Komfortfunktionen wie die automatische Lichtsteuerung, das Einschalten des Radios per Sprache etc. Wir führen Menschen also mit einer positiven Assoziation an die Sensor-Technologie heran, ganz ohne den Kontext einer Hilfsbedürftigkeit. Das steigert die allgemeine Akzeptanz für derartige Assistenzsysteme. Denn wenn die Technologie kranken Personen von extern zugetragen wird und man das System vorher noch nicht kennen- und schätzen gelernt hat, wirkt dessen Installation bei vielen eher wie eine Bevormundung oder wie ein Zeichen für ihre Gebrechlichkeit und wird nicht automatisch als ein Plus an Lebensqualität gesehen, was sie aber ist.

 

Welche Rolle spielt Akzeptanz für Sie, Herr Dähn?

Dähn: Die Akzeptanz ist entscheidend, wenn wir wirklich etwas bewegen wollen. Deshalb finde ich den Ansatz von HUM Systems sehr charmant, dass die Hilfsbedürftigkeit, sprich die Krankheit hier eher im Hintergrund mitläuft, also gar nicht vordergründig ist. Aber das Assistenzsystem sich dann, wenn es wichtig wird, sofort bemerkbar macht, und zwar nicht, indem es auf die Krankheit hinweist, sondern indem es eine klare Handlungsanweisung gibt, die sehr einfach und verständlich ist, sodass man sie ohne großen Aufwand in den Alltag einbauen kann.

 

Was heißt das für Ihre Projekte?

Dähn: Es ist beispielsweise wichtig, dass die Informationen, die chronisch Kranke auf dem geplanten Patientenportal abrufen können, nicht nur zu ihnen passen, sondern sie diese auch verstehen. Medizinisches Wissen allein, das von dem Arzt oder der Ärztin vermittelt wird, heißt eben nicht unbedingt, das Gesagte auch zu verstehen beziehungsweise zu verinnerlichen im Sinne von: „Ich verstehe, dass die Empfehlung wirklich das Beste für mich ist und ich mich auf jeden Fall daran halten sollte. Das will ich auch tun.“ Je nach chronischer Krankheit liegt die Adhärenz-Quote, also die Bereitschaft, die ärztlichen Anweisungen tatsächlich zu befolgen, bei gerade mal 40 Prozent. Deshalb ist verständliche Sprache ein wichtiger Punkt. Aber auch, Patientinnen und Patienten die Therapie so leicht wie möglich zu machen.

 

Können digitale Hilfsmittel dabei unterstützen?

Dähn: Absolut. Nehmen wir an, ein Krebspatient erhält regelmäßig eine Chemo-Behandlung und muss dafür jedes Mal einen langen Weg ins Krebszentrum auf sich nehmen. Es kann aber vorkommen, dass er dort stundenlang warten muss und schließlich die Voruntersuchung ergibt, dass seine Werte gerade nicht so optimal sind und er an diesem Tag aufgrund seiner aktuellen Verfassung keine Chemo bekommen kann, die Behandlung also verschoben werden muss. Dann fährt er wieder nach Hause, was ihn zusätzlich belastet, obwohl er sich eigentlich ausruhen sollte. Diese Tour kann man dem Betroffenen getrost ersparen, wenn Werte wie Blutdruck, Temperatur, Herzrhythmus, Gewicht etc. digital übermittelt werden können. Zusätzlich kann der geübte Arzt oder die Ärztin vorab per Video mit dem Patienten sprechen, um zu erkennen, wie er reagiert, ob er gestresst ist, wie seine Gesichtsfarbe ist etc. So lässt sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient umsonst in die Klinik fährt, mittels digitaler Möglichkeiten deutlich reduzieren.

Humanfar: Das ist ein gutes Beispiel, wie sich durch den Einsatz digitaler Technologien Prozesse verschlanken lassen, was sowohl Patientinnen und Patienten entgegenkommt als auch die Effizienz der Versorgung steigert. Und genau das sehen wir als unsere Kernaufgaben. Wir wollen mit unseren Lösungen zusammen mit Partnern dabei mithelfen, dass die Menschen wieder mehr zusammenrücken und sich Gemeinschaften bilden, die sich gegenseitig unterstützen. Und wir wollen, dass sich damit Aufwände reduzieren, um Wirtschaftlichkeitspotenziale zu schaffen und auszuschöpfen, beispielsweise durch Healthcare on demand.

Dähn: Da sind wir ganz auf einer Linie. Gerade der Ansatz von HUM Systems, unterschiedliche Personengruppen miteinander zu vernetzen, also Patientinnen und Patienten auf der einen und Angehörige oder andere Bezugspersonen auf der anderen Seite, ist für uns spannend und passt zu unserem Anspruch. Um Vernetzung geht es letztlich auch beim Patientenportal. Wir wollen ein Ökosystem im Sinne der Patientinnen und Patienten und im Sinne der Gesundheitsversorgung schaffen. Unser Ziel ist es, chronisch Kranke damit vollumfänglich zu betreuen – vom Monitoring zuhause über Diagnostik, Sensorik und digitale Therapie bis hin zu unseren ambulanten Angeboten und stationären Einrichtungen.

 

Das Screening von neuen Geschäftsmodellen, Markttrends und Entwicklungen im Gesundheitsmarkt zählt ebenfalls zu Ihren Aufgaben. Wo spielt aktuell und perspektivisch die „Musik“, wo zeichnen sich Revolutionen im Gesundheitssystem ab?

Dähn: Ein Punkt, der banal klingt, aber tatsächlich revolutionär ist, sind Innovationen in der Regulatorik. Weltweit einzigartig ist in diesem Zusammenhang das, was Deutschland mit dem gerade erst in Kraft getretenen Digitalen Versorgungsgesetz, kurz DVG, jetzt wagt. Die Bundesregierung will damit den Zugang für digitale Therapeutika und digitale Gesundheitsanwendungen ermöglichen. Im Zuge dessen werden auch weitere Services wie die elektronische Patientenakte und das E-Rezept ausgerollt und die Telematikinfrastruktur etabliert. Wichtig: Diese digitalen Gesundheitsanwendungen sollen alle auch vergütet werden.

 

Deutschland als Vorreiter. Das ist mal was Neues, weil sonst eher die USA den Takt vorgeben. Welche Trends sind hier zu erkennen, die auch bald zu uns nach Deutschland kommen werden?

Dähn: Was sich im Ausland abzeichnet ist beispielsweise die langfristige Betreuung von Patientinnen und Patienten. Das hängt teilweise auch mit der Regulatorik zusammen. In den USA ist es beispielsweise so, dass Kliniken Strafzahlungen auferlegt bekommen können, wenn Patientinnen oder Patienten innerhalb von 90 Tagen nach dem Krankenhausaufenthalt wegen derselben Sache wieder ins Krankenhaus müssen, weil vielleicht die OP doch nicht so gut gelaufen ist wie erwartet. Deshalb sind die Kliniken sehr daran interessiert, mit den Betroffenen auch nach dem Klinikaufenthalt im ständigen Austausch zu bleiben, um die Therapie nach Bedarf zeitnah zu verfeinern und damit einem erneuten Eingriff oder einer schwerwiegenden Folgeerkrankung zuvorzukommen. Hier spielt das Home-Monitoring eine wesentliche Rolle. Das wird auch in Deutschland wichtiger werden, gerade im Bereich der Kardiologie.

Dazu passt auch, dass in den USA Patientinnen und Patienten verstärkt durch Health-Coaches betreut werden, die auf Ernährung, Relaxation, Bewegungstherapie, langfristige Verhaltensveränderungen, Reduzierung oder Aufgabe von Genussmittelkonsum etc. spezialisiert sind. Das heißt, dass sich Patientinnen und Patienten kontinuierlich mit Gesundheits-Beraterinnen und -Beratern austauschen, die ihnen dabei helfen, ihre Gesundheitsziele zu erreichen. Und das nicht nur in Bezug auf eine bestimmte Krankheit, sondern ganzheitlich. Diese Experten stimmen sich kontinuierlich mit Ärztinnen oder Ärzten ab. Vergleichbar mit einer Rehaklinik, nur digital und langfristig angelegt.

 

Dadurch wird die Ärzteschaft entlastet und bekommt durch das ganzheitliche Coaching dann wahrscheinlich auch umfassende Informationen, die die Entscheidung für die richtige Therapieform erleichtern.

Dähn: Ja. Was ebenfalls die Behandlung optimieren hilft und in den USA vorangetrieben wird, kann mit den Schlagworten Data Science und Künstliche Intelligenz umschrieben werden. So lassen sich beispielsweise durch die Auswertung von sehr, sehr vielen Daten von Patientinnen und Patienten, Muster oder, wie ich es nenne, Populationen bilden: Gruppen so genannter virtueller Zwillinge mit übereinstimmenden Identifikationskriterien. Wenn ich dann Therapieerfolge mit Patientinnen und Patienten erziele, die zu diesen Grundgesamtheiten passen, dann kann ich die Erkenntnis auch für andere „Zwillinge“ nutzen und so die Therapie noch zielgerichteter aussteuern. Weil ständig neue Daten einfließen, handelt es sich hier um ein lernendes System, das sich ständig verändert und sich per KI neuen Gegebenheiten anpasst. Es gibt mathematische Datenmodelle, mit denen Patientenpopulationen hochgerechnet und Wahrscheinlichkeiten ermittelt werden können, wie wer wann auf welches Medikament reagieren wird.

 

Welche Unternehmen sind auf diesem Feld führend?

Dähn: Ich sehe hier die großen Tech-Unternehmen in den USA ganz weit vorn, wie die GAFA+M, sprich: Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft, die über eine hohe Datenqualität verfügen. Sie entwickeln schon seit Längerem Algorithmen für große Populationen, die genaue Voraussagen zulassen. Es gibt viele kompetente Marktbeobachter, die behaupten, dass Algorithmen über kurz oder lang so wertvoll sein werden, wie die Medikamente selbst und auch den gleichen Umsatz erzielen. Und da reden wir von vielen Milliarden Euro. Deutschland und Europa sind hier im Hintertreffen und sollten meiner Ansicht nach das Feld nicht diesen Tech-Giganten aus Übersee kampflos überlassen.

 

Wie kann man gegen diese Übermacht punkten, die so viel Geld hat, dass sie das Gesundheits-Geschäft erst einmal mit Suchmaschinen- oder Smartphone-Gewinnen querfinanzieren kann, um Mitbewerber wie die Johanniter aus dem Markt auszuschließen, die es sich nicht leisten können, lange unwirtschaftlich zu arbeiten?

Dähn: Alle wichtigen Marktteilnehmer müssen mehr zusammenarbeiten. Denn was die digitale Transformation betrifft, sitzen wir alle in einem Boot. Wir als Johanniter können unsere 900-jährige Erfahrung einbringen. Unsere Assets sind die Patientenbindung und -loyalität, die medizinische Exzellenz, die hohe Qualität in der Gesundheitsversorgung. Unsere Leistungen wollen wir mit digitalen Mitteln noch stärker vernetzen, verdichten und effizienter gestalten. Unsere Erkenntnisse dann mit anderen teilen und auch von anderen lernen – sei es von ähnlichen Anbietern, sei es von Start-ups wie HUM Systems, um selbst zu einem großen Player im Digitalen zu werden.

Humanfar: Ich teile die Auffassung, dass wir hier in Europa eigene Lösungen entwickeln müssen. Wir treffen immer wieder auf potenzielle Partnerunternehmen, die uns auf gut Deutsch den Vogel zeigen, weil sie der Ansicht sind, dass wir mit unseren Ideen gegenüber den US-Konzernen oder den asiatischen Anbietern eh keine Chance haben. Doch ich denke, dass wir das Potenzial haben, uns gemeinsam mit starken europäischen Partnern gegenüber dem Wettbewerb zu behaupten und etwas Eigenes aufzubauen, das dann wahrscheinlich auch mehr unseren spezifischen Bedürfnissen und Werte-Vorstellungen in Deutschland und Europa entspricht. Wir sollten den Mut haben zu experimentieren, einfach mal zu machen, voranzugehen und unsere Kräfte zu bündeln. Es ist noch nicht zu spät.

 

Zum Schluss: Wunschkonzert. Was, Herr Dähn, würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

Dähn: Ich wünsche mir den medizinischen „Tricorder“ von Star Trek aus dem 23. Jahrhundert. Das ist ein tragbarer Scanner der Sternenflotte und dient der Untersuchung von Personen. Er kann Verletzungen und Krankheitserreger scannen und die Biofunktion des Patienten oder der Patientin überwachen. Teilweise therapiert er auch schon, und alles ist fein.

Humanfar: Wir arbeiten dran.