Im folgenden Interview geben Marcus Beier, Geschäftsführer AWO Lausitz, Yves Tschentscher, Projektleiter „ZukunfTAlter“ der AWO Lausitz, und Amir Humanfar, Mitgründer von HUM Systems, Einzelheiten zu dem Modelversuch, der für ganz Deutschland Maßstäbe setzen wird, bekannt.

Berlin/Hoyerswerda – 29. Juni 2021. Auch im Alter ein möglichst unabhängiges Leben in häuslicher Umgebung zu führen – wer wünscht sich das nicht? Je mehr Menschen das gelingt, desto besser. Denn das würde ebenfalls den Pflegesektor entlasten, der angesichts des demografischen Wandels und Fachkräftemangels stark unter Druck steht. Die AWO Lausitz Pflege- und Betreuungs- gGmbH in Hoyerswerda arbeitet deshalb zusammen mit Partnern wie dem Berliner Start-up HUM Systems im Rahmen des Projekts „ZukunfTAlter“ an innovativen Lösungen, die das Ziel verfolgen, die Lebensqualität von Seniorinnen und Senioren zu steigern und gleichzeitig Pflegenden mehr Spielraum zu sichern.

Im folgenden Interview geben Marcus Beier, Geschäftsführer AWO Lausitz, Yves Tschentscher, Projektleiter „ZukunfTAlter“ der AWO Lausitz, und Amir Humanfar, Mitgründer von HUM Systems, Einzelheiten zu dem Modelversuch, der für ganz Deutschland Maßstäbe setzen wird, bekannt.

 

Welche konkreten Probleme gehen Sie mit Ihrem Projekt „ZukunfTAlter“ an?

Beier: Der demografische Wandel und die Überalterung der Gesellschaft stellen unsere Region im Freistaat Sachsen, aber auch in zahlreichen anderen Regionen Deutschlands vor große Herausforderungen. Ein Großteil unserer älteren Mitbürger und Mitbürgerinnen lebt im ländlich geprägten Raum, bei oftmals unzureichender Infrastruktur. Jüngere ziehen weg von dort. Fehlende finanzierbare Angebote für barrierefreies und bedarfsgerechtes Wohnen erschweren es vielen Menschen, in den eigenen vier Wänden und am Wohnort selbstbestimmt bis ins hohe Alter leben zu können. Hinzu kommen defizitäre Pflegestrukturen, die pflegende Angehörige und auch die Mitarbeiter, die in der Pflege tätig sind, belasten. Ein weiteres Problem, das damit einhergeht, ist der Fachkräftemangel.

Tschentscher: Im Projekt „ZukunfTAlter“ gehen wir der Frage nach, wie ein gelingendes Altern im Austausch zwischen den Bezugspersonen, zwischen jung und alt, und den relevanten Institutionen gestaltet werden kann. Wir widmen uns in dem Projekt vor allem technologischen und sozialen Innovationen, die Erleichterungen und Optimierungen in den Bereichen Wohnen, Pflege und Wohnumfeld aber auch dem Lebens- und Sozialraum versprechen. Diese Felder werden mit entsprechenden Sensibilisierungs- und Befähigungskonzepten untersetzt. Weil uns hier teils die Expertise fehlt, haben wir engagierte 94 Bündnispartner aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Sozialwesen, Kultur, Bildung und Kommunalpolitik akquiriert, die uns unterstützen und gemeinsam mit uns Lösungen und Gestaltungskonzepte entwickeln. Ein Beispiel ist das Berliner Start-up HUM Systems, Spezialist für vernetzte IoT-Anwendungen.

Humanfar: Wir wollen mit unseren technologischen Lösungen einen Beitrag für die Vernetzung und Prozessoptimierung aller beteiligten Akteure im Elderly Care leisten. Darum ist es wichtig für uns, aus erster Hand und aus der Praxis zu erfahren, was die genauen Bedürfnisse sind, wo wir ansetzen können.

Wir sind vor einigen Jahren mit einem Deckensensor für Einbruchs- und Brandschutz gestartet, der mit dem Smartphone gekoppelt ist, und auf dieser Basis haben wir uns laufend weiterentwickelt. Denn wir verfolgen einen agilen Ansatz. Das heißt, dass wir uns nicht jahrelang ins Kämmerchen einschließen und dann irgendwann mit einem fertigen Produkt vor die Tür treten und es in den Markt werfen, in der Hoffnung, dass es Abnehmer findet. Unser Ansatz ist ein anderer: Wir bleiben in der Pilotphase ständig im Austausch mit den Menschen, für die wir die Lösungen erarbeiten und optimieren unsere Hard- und Software gewissermaßen während der Nutzung mithilfe des Feedbacks der Anwender laufend weiter, sei es durch Updates oder Neuentwicklungen.

Wir sind sehr froh, beim Projekt „ZukunfTAlter“ dabei zu sein, weil es hier ja genau darum geht, sprich Neuland zu begehen und je nach Erfahrungswert flexibel anzupassen und zu verfeinern. Außerdem sehen wir einen großen Bedarf für digitale Assistenz-Systeme, die Bezugspersonen miteinander vernetzen, um ihnen das Leben zu erleichtern. Die Herausforderungen, die Herr Beier nannte, werden aus unserer Sicht in der Gesellschaft noch viel zu wenig thematisiert.

Sie haben sich mit dem Projekt „ZukunfTalter“ beim BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung um Förderung beworben. Wenn Sie im August den Zuschlag bekommen sollten, was setzen Sie dann genau um?

Beier: Wir wollen ein Quartier erschaffen, in dem alles Wesentliche in naher Umgebung, also in einem Radius von nur einem Kilometer, erledigt werden kann. Im Zentrum steht das Bauvorhaben eines Konzeptpflegeheimes, das zwischen häuslichem Umfeld und stationärer Pflege eine räumliche Verbindung schafft: In der Wohnanlage wird es oben Wohnungen geben und unten eine Pflegeeinrichtung. 

Tschentscher: Das heißt: Wenn ich noch relativ selbstständig bin, kann ich mir in der oberen Etage eine barrierefreie, pflegegerechte Wohnung mieten und dort so lange wie möglich in meinem häuslichen Umfeld bleiben, was die meisten Menschen ja wollen. Ich habe aber auch die Möglichkeit, gegebenenfalls stationäre Leistungen aus dem Pflegeheim in den unteren Etagen abzurufen, zum Beispiel in der Nacht oder für bestimmte Situationen. Denn es ist ja immer jemand im Haus. Diese Hybridisierung in der pflegerischen Versorgung steigert die Lebensqualität der Mieterinnen und Mieter, entlastet gleichzeitig die pflegenden Angehörigen und sie reduziert die Kosten. Hier müssen allerdings auch die Krankenkassen mitmachen und neue Abrechnungsmodelle entwickeln. Ferner ist durch die Pflegekonzeption eine deutliche Verbesserung des Arbeitsumfeldes vorgesehen – und das nicht nur im digitalen Sinn. Denn die Einrichtung ist so prozessoptimiert konzipiert, dass zum Beispiel durch zentrale Funktionsbereiche unnötige Wege verhindert werden.

Welche Rolle spielen hier technologische Aspekte?

Beier: Dieses Projekt dient uns als lebendiges Labor. Wir werden beispielsweise eine Wohnung komplett ausstatten mit neusten technologischen Lösungen wie von HUM Systems, und sie zum Probewohnen vermieten. Wir werten dann aus, was von den digitalen Assistenz-Systemen tatsächlich angenommen wird, was sinnvoll ist und was nicht. Parallel dazu werden wir – wie in der Konzeptphase auch schon – weitere Umfragen durchführen, um den Bedarf für die neuen Angebote zu ermitteln. Denn was sich die Menschen in ihrem Alltag an Unterstützung wünschen und wie aufgeschlossen sie gegenüber Technologie sind, ist teils ganz unterschiedlich. Viele sind skeptisch, fühlen sich von den technischen Geräten beobachtet und kontrolliert.

Tschentscher: In diesem Zusammenhang möchte ich betonen: Der soziale Kontakt, die Mensch-zu- Mensch-Beziehung steht immer im Mittelpunkt und soll nicht durch Technik ersetzt werden. Das ist nicht unser Ziel. Im Gegenteil. Wir wollen mithilfe der Digitalisierung und der Technologien effizienter arbeiten und dadurch mehr Zeit für den persönlichen Kontakt zu den Menschen bekommen. Die Pflege ist keine leichte Arbeit. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich bin Altenpfleger von Beruf und habe selbst zwölf Jahre in der Pflege gearbeitet. Es ist eine schwere Arbeit, die von der Gesellschaft noch nicht so anerkannt wird, wie sie eigentlich anerkannt werden sollte. Hier gibt es noch jede Menge Handlungsbedarf – seitens der Politik, der Krankenkassen, selbst auch der Angehörigen. Die Demografie-Entwicklung verschärft die Lage zusätzlich. Sie spiegelt sich auch beim Pflegepersonal wider. Deshalb müssen wir überlegen, wie können wir die alternden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befähigen, ohne gesundheitliche Schäden bis zum Eintritt ins Rentenalter bei uns zu arbeiten? Entlastende Technologie und moderne zukunftsorientierte Konzepte wie das Modell-Quartier können helfen, um die Qualität in der Pflege insgesamt zu steigern und den Beruf attraktiver zu machen.

Humanfar: Da stimme ich voll zu. Wir wollen nicht den Menschen ersetzen mit unseren technologischen Systemen. Es geht vielmehr darum, dabei zu unterstützen, die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu meistern. Wir sind uns auch dessen bewusst, dass digitale Technik überfordern und verängstigen kann. Es reicht eben nicht, der Großmutter in der betreuten Wohnanlage einfach ein Smartphone in die Hand zu drücken, damit sie sich meldet, wenn was nicht in Ordnung ist. Auch kann es nicht die Lösung sein, überall piepsende und blinkende Alarmgeräte zu installieren, die jeden Schritt überwachen. Unsere Technik soll als Gewinn für ein selbstbestimmtes Altern erlebt werden. Sie soll die Autonomie der Seniorinnen und Senioren steigern und erhalten. Zugleich schafft sie eine Verbindung zu Pflegekräften, Angehörigen und anderen Bezugspersonen, sie bindet also eine Community mit ein und überwindet so die räumlichen Distanzen, die historisch entstanden sind, weil beispielsweise die Familienmitglieder heutzutage an ganz unterschiedlichen Orten leben.

Wegen Covid-19 waren auch Besuche lange nicht möglich ...

Humanfar: Ich glaube, dass gerade auch die Pandemie gezeigt hat, wo die Schwächen in unserer Gesellschaft im Elderly Care liegen. Die soziale Isolation, die Einsamkeit gerade bei den Älteren wurde noch verstärkt. Und die Pflegekräfte arbeiteten bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit oder sogar darüber hinaus. Das sind Folgen unserer gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen. Deshalb ist es unseres Erachtens wichtig einmal innezuhalten, einen Schritt zurückzugehen, um aus der nötigen Distanz heraus einen kritischen Blick darauf zu werfen und zu überlegen: Wie können wir wieder etwas hinbekommen, das offensichtlich schiefgelaufen ist? Wie lassen sich Menschen – wenn auch nur in einem kleinen vertrauten Kreis – wieder mehr zusammenbringen, damit sie sich gegenseitig unterstützen und füreinander da sei können, wenn es nötig ist? Wie kann Technologie hier eine Hilfestellung geben? Dann fallen einem schnell viele Dinge ein. Manchmal reicht es schon, nur die richtige Nachricht zur richtigen Zeit an die richtige Person weiterzusenden, damit man Menschen miteinander verbindet. Ich denke, die großen Probleme fangen bei der Isolierung, bei der Einsamkeit von Menschen an. Wenn wir mit unseren digital-vernetzten Community-Systemen dem ein Stückweit entgegenwirken könnten, dann ist da schon viel geholfen.

Wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang das Thema Datenschutz ein?

Humanfar: Das Schlüsselwort ist meiner Ansicht nach Transparenz. Es muss klar sein, welche Daten wann erhoben werden, wohin sie gehen, was mit ihnen passiert, wie lange sie wo gespeichert sind etc. Und jeder, der seine Daten gibt, sollte jederzeit in der Lage sein, den Transfer zu unterbinden, wenn er oder sie das will. Werden die Daten ins außereuropäische Ausland transferiert oder für Geschäftsmodelle genutzt, die mit dem eigentlichen Ziel nichts zu tun haben, muss das ersichtlich und zu unterbinden sein. Dazu sind genaue Regeln und wirksame Gesetze nötig. Vieles gibt es schon oder ist bereits angestoßen, einiges kann aber noch verbessert werden.

Beier: Wir sollten uns im Klaren darüber sein, was wir wirklich wollen, was unsere Ziele sind, welche Vorteile und Nachteile es gibt. Wir arbeiten mit IT-Fachleuten zusammen, die die Systeme überprüfen und uns beraten.
Auch hier wird deutlich, dass Experten, Spezialisten, Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen, Politik und Wirtschaft sich einbringen und letztlich an einem Strang ziehen müssen, um Dinge voranzutreiben, die uns allen nachhaltig das Leben erleichtern und uns eine hohe Lebensqualität sichern. Wollen wir die Herausforderung Pflege und Elderly Care schaffen, sind alle aufgerufen. Das ist auch der Grund, warum „ZukunfTAlter“ mittlerweile ein Zusammenschluss von Unternehmen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft, von Organisationen und Start-Ups aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung, Institutionen, Vereinen, Verbänden, Interessensvertretungen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen, Kommunalpolitikern und natürlich Vertretern der Zivilgesellschaft und interessierten Bürgerinnen und Bürgern ist. Wir verstehen uns als Plattform für eine effiziente Vernetzung. Wir bringen Akteure zusammen, entwickeln nachhaltige Lösungen im demografischen Kontext, die praxisnah und bedarfsorientiert sind. Nur gemeinsam können wir wirklich was bewegen und uns generationsübergreifend eine menschenwürdige, lebensbejahende und finanzierbare Zukunft sichern.

 

Über die AWO Lausitz

Die Arbeiterwohlfahrt ist ein Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Sie wurde 1919 durch Marie Juchacz gegründet, im Jahr 1933 aber durch die Nazis zerschlagen. Im Westteil Deutschlands konnte sie 1946 neu aufgebaut werden. In der DDR wurde sie aber nicht mehr zugelassen und konnte somit erst nach der Wiedervereinigung ihre Tätigkeit in den neuen Bundesländern wieder aufnehmen. So begann der Ortsverein Hoyerswerda im September 1990 seine Tätigkeit und konnte sich ab Juli 1991 mit einer Sozialstation und Kleiderkammer um Hilfsbedürftige kümmern. Das Startsignal für die Bildung der Ortsvereine Laubusch, Klein-Partwitz, Bernsdorf, Lohsa und Lauta gab es im November 1991 die Gründung des AWO-Kreisverbandes Hoyerswerda, welcher sich aufgrund der Kreisreform mit dem Kreisverband Kamenz zusammenschloss. Der heutige Kreisverband Lausitz hat nach der Fusion mit dem Kreisverband des Niederschlesischen Oberlausitzkreises 518 Mitglieder und ist damit einer der mitgliederstärksten Kreisverbände in Sachsen.

Weitere Informationen: https://awo-lausitz.de

Über die HUM Systems GmbH

HUM Systems ist ein 2017 gegründetes Berliner IoT-Unternehmen (IoT=Internet of Things) auf dem Smart-Home-Markt. Die Abkürzung HUM ist ein Konstrukt aus den englischen Wörtern HUMAN und MACHINE und Ausdruck des Anspruchs des mehrfach ausgezeichneten Start-ups, Mensch (HUMAN) und Technologie (MACHINE) in intelligente Systeme (SYSTEMS) zusammenzuführen.
Weitere Informationen: https://hum-systems.com.

Über die Markenfamilie Livy

Mit Livy Protect hat HUM Systems ein benutzerfreundliches All-in-one-Smart-Home-Produkt geschaffen, das drei Hauptbedürfnisse der Menschen in Gebäuden löst: Livy Protect ermöglicht es den Nutzern, ihr Zuhause vor Feuer und Einbruch zu schützen, die Temperatur, Feuchtigkeit und Luftqualität zu überwachen und durch die Verwendung der Livy App eine Gemeinschaft von Familie und Freunden einzubinden, die im Falle eines Alarms per Push-Benachrichtigung informiert wird.

Livy Plus bietet dem Kunden zusätzliche Dienstleistungen an, wie das Versicherungspaket „Home Cover“, das bei bösen Überraschungen zu Hause – ob Schlüsselverlust, Wasserschäden oder bei einem Einbruch – greift.
Im Rahmen der Kooperation mit dem Energieversorger Vattenfall hat HUM Systems bereits zwei Gerätegenerationen von Livy Protect entwickelt und in den Handel gebracht. Im Laufe des Jahres 2021 soll die dritte vorgestellt werden, dann allerdings unter dem Namen Livy Alive.
Weitere Informationen: https://livy-home.com.